Dass viele Urner und Urnerinnen Ende 19. Jahrhundert nach Amerika auswanderten, ist nur ein kleiner Teil der Urner Migrationsgeschichte. © istock

Uri ist voller Migrationsgeschichten – Eine Einführung

Rahel Wunderli und Chiara Zgraggen

In ei­nem Pro­jekt wie dem un­se­ren, bei dem der Wan­del im Zen­trum steht, darf das The­ma Mi­gra­ti­on nicht feh­len. Denn wenn Men­schen in Be­we­gung sind und ih­ren Le­bens­mit­tel­punkt ver­schie­ben, löst dies au­to­ma­tisch Ver­än­de­rung aus – am Ort, den sie ver­las­sen, und am Ort, an den sie hin­zie­hen. 
Kei­ne Ge­sell­schaft ist oh­ne Mi­gra­ti­ons­er­fah­rung, mensch­li­che Wan­de­rungs­be­we­gun­gen sind ei­ne his­to­ri­sche Kon­stan­te und so­mit ei­ne ge­teil­te Er­fah­rung. Und gleich­zei­tig hat je­de Ge­sell­schaft, je­des Land und so­gar je­de Re­gi­on ih­re ganz spe­zi­fi­sche Mi­gra­ti­ons­ge­schich­te. Wie sieht je­ne von Uri aus?

Wir ha­ben uns in den Jah­ren 2023 und 2024 mit Mi­gra­ti­on von und nach Uri in frü­he­ren Zeit und heut­zu­ta­ge be­fasst, ha­ben Bü­cher ge­le­sen, In­ter­views ge­führt und Sta­tis­ti­ken aus­ge­wer­tet. Da­bei ist deut­lich ge­wor­den: Uri ist vol­ler Mi­gra­ti­ons­ge­schich­ten! 
Ei­ni­ge da­von sind wohl­be­kannt und gut do­ku­men­tiert, an­de­re kaum, man­che sind für im­mer ver­ges­sen, wie­der an­de­re wer­den nicht als Mi­gra­ti­ons­ge­schich­ten er­zählt. Die Men­ge an sol­chen Ge­schich­ten ist un­über­blick­bar gross, wir kön­nen hier nur ei­ni­ge we­ni­ge nen­nen. 

Im Schnellgang durch die Jahrhunderte

Da ist zum Bei­spiel der Durch­gangs­ver­kehr, der die Re­gi­on seit Jahr­hun­der­ten prägt: Ein per­ma­nen­ter Strom von Wa­ren und Men­schen auf der Nord-Süd- und der Ost-West-Ach­se. Dass da­bei im­mer wie­der auch Pas­san­ten und Pas­san­tin­nen "hän­gen­ge­blie­ben" sind, zei­gen die vie­len alt­ein­ge­ses­se­nen Ur­ner Fa­mi­li­en­na­men mit ein­deu­tig nicht-ur­ne­ri­scher Her­kunft.
Oder das Sold­we­sen, das vom 16. bis zum 18. Jahr­hun­dert im "Land Uri" ein wich­ti­ger Wirt­schafts­zweig war: Vie­le jun­ge Ur­ner be­fan­den sich als Sol­da­ten im Dienst eu­ro­päi­scher Macht­ha­ber teil­wei­se wäh­rend Jah­ren im Aus­land. 
En­de 19. Jahr­hun­dert war in Uri Aus­wan­dern an­ge­sagt. Die Zahl der Ein­zel­per­so­nen und Fa­mi­li­en, die nach Ame­ri­ka zo­gen, war so gross, dass meh­re­re Agen­tu­ren sich um die Be­treu­ung der Emi­gra­ti­ons­wil­li­gen küm­mer­ten. Und noch heu­te: Wer an ei­ner Ver­an­stal­tung in Uri fragt, wer Ver­wand­te in den USA ha­be, be­kommt ei­ne be­ein­dru­cken­de An­zahl er­ho­be­ne Hän­de zu se­hen. 
Im Ver­lauf des 20. Jahr­hun­derts wur­de Uri – wie üb­ri­gens die gan­ze Schweiz – von ei­nem net­to Aus­wan­de­rungs- zu ei­nem net­to Ein­wan­de­rungs­ge­biet. Be­son­ders mar­kant war der Zu­zug von Ita­lie­nern und Ita­lie­ne­rin­nen wäh­rend der Hoch­kon­junk­tur nach dem 2. Welt­krieg, spä­ter ka­men Men­schen aus an­de­ren Län­dern (auch aus­ser­eu­ro­päi­schen) eben­falls in grös­se­rer Zahl nach Uri. 
Wäh­rend des 20. Jahr­hun­derts wur­de in Uri und der Schweiz mehr­fach ein Phä­no­men po­li­tisch heiss dis­ku­tiert, das eben­falls von Mi­gra­ti­on her rührt, aber sprach­lich nicht da­mit in Zu­sam­men­hang ge­bracht wird: Die Be­völ­ke­rungs­ab­nah­me in vie­len Berg­dör­fern ab­seits der Haupt­ver­kehrs­rou­ten und das Wach­sen der Zen­tren. Man spricht von "Land­flucht" an­statt Bin­nen­mi­gra­ti­on, wer weg­zieht wird kaum als "Mi­gran­tin" oder "Mi­grant" be­zeich­net.

Urner Migrationsgeschichte in Bildern

Urner Verkehrsgeschichte ist auch Migrationsgeschichte. In Zeiten, als die Reisegeschwindigkeit viel langsamer war als heute, war der Kontakt zwischen Fremden und Ortsansässigen auch intensiver. Furka-Post auf der Furka-Passhöhe, ca. 1890. © Staatsarchiv Uri

Ein wichtiger Nebeneffekt: Die zeitweise Emigration junger Männer im Rahmen des Solddienstes linderte während der Frühen Neuzeit den Druck auf die knappen Ressourcen in der Urner Landwirtschaft. Denkmal des Urner  Söldnerführers Heini Wolleb. © Staatsarchiv Uri

Die reformierten Kirchen in Uri (hier jene von Altdorf) sind ein vergleichsweise junges Produkt von Migration. Eine beträchtliche Anzahl Fachpersonen, die ab den 1860er Jahren für den Bau des Gotthardbahntunnels oder später für andere grosse Bauprojekte benötigt wurden, kamen aus reformierten Ländern und Kantonen. Sie gründeten eigene Kirchgemeinden in Uri und bauten auch in mehreren Dörfern Gotteshäuser. © Staatsarchiv Uri

Eine Rarität: Das Bild einer Urner Migrantin Ende des 19. Jahrhunderts. Nach Amerika ausgewanderte Hausangestellte bei Dr. Carl Gisler (ca. 1915-1925). © Staatsarchiv Uri

Nach 1950 und bis heute stammen viele Arbeiter und Arbeiterinnen von grossen Urner Firmen aus dem Ausland. Firmenausflug der Dätwyler AG 1955 anlässlich des 40-Jahre-Jubiläums. © Staatsarchiv Uri

Manche Formen von Migration waren und sind saisonal: Die «Mähder» oder «Akkkordanten» waren bis etwa in die 1960er Jahre wichtige Arbeitskräfte bei der Heuernte in Ursern. Das Bild zeigt eine Gruppe von Ernte-Arbeitern aus Bergamo mit dem Bewirtschafter und einigen seiner Familienmitglieder (Frauen und Kinder). Aufnahme um 1940. © Hans Regli, Andermatt

Fragen bringen Erkenntnisse

Wir ha­ben beim Sam­meln von Ur­ner Mi­gra­ti­ons­ge­schich­ten ver­sucht, sie mit Hil­fe von Fra­gen mög­lichst prä­zis ein­zu­ord­nen: Un­ter wel­chen kon­kre­ten Um­stän­den ver­schie­ben die un­ter­such­ten Grup­pen oder die in­ter­view­ten Men­schen ih­ren Le­bens­mit­tel­punkt? Wer mi­griert zu wel­chem Zeit­punkt von wo nach wo? Was sind sei­ne oder ih­re Be­weg­grün­de? In­wie­fern un­ter­schei­den sich Her­kunfts- und Ziel­ort? Was be­deu­tet das für das An­kom­men und Sich-in­te­grie­ren?   
Ne­ben den spe­zi­fi­schen Um­stän­den und den Ei­gen­hei­ten, die je­de Mi­gra­ti­ons­ge­schich­te hat, ha­ben wir auch nach dem ge­fragt, was die Ge­schich­ten ver­bin­det. In­wie­fern äh­neln sich zum Bei­spiel die Er­fah­run­gen von Zu­ge­zo­ge­nen und je­nen, die Uri ver­las­sen ha­ben? Gibt es Par­al­le­len zwi­schen Mi­gra­ti­ons­ge­schich­ten, die auf den ers­ten Blick nichts ge­mein ha­ben – zum Bei­spiel zwi­schen der Ge­schich­te ei­nes Eri­tre­ers, der sich nach sei­ner Flucht in Uri ein neu­es Le­ben auf­baut und der Ge­schich­te ei­nes Zür­chers, der nach Gurt­nel­len zieht und zwi­schen den bei­den Or­ten pen­delt?
Und nicht zu­letzt ha­ben wir je­ne zu Wort kom­men las­sen, die an ei­nem Ort blei­ben und Mi­gra­ti­on qua­si als Aus­sen­ste­hen­de er­le­ben.

Wir wün­schen Ih­nen gu­te Un­ter­hal­tung, ab und zu ein "Aha!" und noch vie­le an­de­re Re­ak­tio­nen bei der Lek­tü­re un­se­rer Bei­trä­ge.  

Weiterführende Literatur

André Holenstein, Patrick Kury, Kristina Schulz: Schweizer Migrationsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart (2018). 

Hans Stadler-Planzer: Geschichte des Landes Uri. Von den Anfängen bis zur Neuzeit (1993).

Hans Stadler-Planzer (Hrsg): Geschichte des Landes Uri. Frühe Neuzeit und Von der helvetischen Umwälzung in die Gegenwart (2015).

Rolf Aebersold; Ralph Aschwanden; Helmi Gasser; Rolf Gisler; Urs Kälin; Hans Jörg Kuhn; Pascal Stadler; Hans Stadler-Planzer, Artikel «Uri», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS)

Helmi Gasser; Marion Sauter; Thomas Brunner: Die Kunstdenkmäler des Kantons Uri, Bd. 1-4 

Kurt Zurfluh, Steinige Pfade. 160 Jahre Urner Wirtschaftsgeschichte, Altdorf 1990.

Urs Kälin: Die Urner Magistratenfamilien : Herrschaft, ökonomische Lage und Lebensstil einer ländlichen Oberschicht, 1700-1850 (1991).

Chiara Zgraggen, Heimat adé – Auswanderung aus Uri zwischen Bauboom und Armut. Aspekte der Überseeauswanderung aus dem Kanton Uri am Ende des 19. Jahrhunderts (Seminararbeit bei Prof. Dr. Patrick Kury), Universität Luzern (2024).

Stefan Fryberg, Heinz Baumann: Strube Zeiten. Uri 1900–2000 (2003).

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