Urner Gemeinden im Sog von Zu- und Abwanderung

Chiara Zgraggen

Wie fa­tal ist der Weg­zug von zwei bis drei Fa­mi­li­en für das Isen­thal? Ist die Sog­wir­kung Alt­dorfs schuld am Weg­zug vie­ler jun­ger Men­schen aus ab­ge­le­ge­ne­ren Ge­mein­den? Und wel­che Aus­wir­kun­gen hat Mi­gra­ti­on auf ver­schie­de­ne Or­te? Die­ser Bei­trag nimmt die Aus­wir­kun­gen der Zu- und Ab­wan­de­rung ei­ni­ger Ur­ner Ge­mein­den in den Fo­kus.

Die Alte Kolonie wurde von der Eisenbahner-Baugenossenschaft erreichtet.
© Staatsarchiv Uri

In­nert zehn Jah­ren, zwi­schen 2011 und 2021, sind 628 239 Men­schen von Bürglen nach Alt­dorf ge­zo­gen, fast ein Drit­tel da­von wa­ren Män­ner und Frau­en zwi­schen 20 und 39 Jah­ren. Zwi­schen 1981 und 2021 sind 8032 aus Erst­feld weg­ge­zo­gen, wäh­rend 7497 Men­schen zu­zo­gen. Die Be­völ­ke­rungs­zahl nahm in die­ser Zeit um zir­ka 10 Pro­zent ab.

Um Sta­tis­ti­ken soll es in die­sem Bei­trag je­doch nicht ge­hen. Mehr zum The­ma Zah­len und Mi­gra­ti­on er­fah­ren Sie in die­sem Bei­trag.

Wenn kleine Veränderungen grosse Konsequenzen nach sich ziehen

Mi­gra­ti­on, die Be­we­gung von Men­schen von ei­nem zum an­de­ren Ort, hat näm­lich auch ein ge­wich­ti­ges (Nach-)Le­ben aus­ser­halb von Sta­tis­ti­ken. Mi­gra­ti­on ist ein Netz, des­sen An­knüp­fungs­punk­te Spu­ren im dörf­li­chen Le­ben und dem Le­ben der an­säs­si­gen Men­schen hin­ter­lässt. Dass die Spu­ren für ei­nen Ort ein Da­mo­kles­schwert sein kön­nen, zeigt Isen­thal ex­em­pla­risch auf. In­ner­halb von zehn Jah­ren ist die Ge­mein­de um ex­akt 100 Per­so­nen ge­schrumpft (2012: 571, 2022: 471). Die Schü­ler­zah­len (Isen­thal ver­fügt über ei­nen Kin­der­gar­ten und ei­ne Pri­mar­schu­le) sind bei­na­he um die Hälf­te zu­rück­ge­gan­gen (Schul­jahr 2012/13: 44; 2020/21: 26). Je­der Weg­zug, der nicht durch ei­nen Zu­zug oder an­der­wei­ti­ge Ein­nah­men kom­pen­siert wer­den kann, nagt am Fun­da­ment, auf dem der Dorf­la­den steht. Zieht ei­ne Fa­mi­lie weg, be­deu­te­te das ei­ne Um­satz­ein­bus­se von 15'000 bis 20'000 Fran­ken, er­zählt der Be­trei­ber Bru­no Im­holz. 

Bruno Imholz, Betreiber des Dorfladens, über das täglich Brot

00:00 / 00:00

Wir ha­ben es am Um­satz ge­merkt. Als wir be­gon­nen ha­ben, hat­ten wir mehr Um­satz, weil mehr Leu­te hier leb­ten. Im Ver­lauf der Zeit sind vie­le Leu­te ge­stor­ben. Wenn dann nie­mand von aus­sen her­zieht, kann man das mit nichts auf­he­ben, aus­ser viel­leicht mit dem Tou­ris­mus. Aber wenn ei­ne Fa­mi­lie geht, dann be­deu­tet das ei­ne Um­satz­ein­bus­se von 15'000 bis 20'000 Fran­ken. Wenn zwei, drei Fa­mi­li­en weg­zie­hen, ist das gra­vie­rend. Das mer­ken wir stark.

Er und sei­ne Frau An­to­nia füh­ren den Dorf­la­den seit ei­ni­gen Jah­ren. Sie sind in der Kul­tur­kom­mis­si­on und im Kir­chen­rat tä­tig. Mög­lich­kei­ten des frei­wil­li­gen En­ga­ge­ments gibt es in der Ge­mein­de ge­nug – Isen­thal zählt 15 Ver­ei­ne. Auch hier be­droht das Netz der Mi­gra­ti­on, ge­nau­er der Ab­wan­de­rung, die Exis­tenz. Je we­ni­ger Men­schen in den Ver­ei­nen sind, des­to eher se­hen sich die Mit­glie­de­rin­nen und Mit­glie­der ge­zwun­gen, Äm­ter in Vor­stän­den zu über­neh­men. Auf den ers­ten Blick er­scheint es da­her ku­ri­os, dass mit al­ler Kraft ver­sucht wird, Ver­eins­auf­lö­sun­gen zu ver­mei­den. Bru­no Im­holz er­klärt es so: «Wenn et­was auf­ge­ge­ben wird, dann ist es weg. Aber viel­leicht könn­te sich ja noch et­was än­dern. Es kann ja sein, dass je­mand von aus­sen hier et­was baut und dann gibt es ei­nen Auf­schwung. Dann könn­te et­was wei­ter­be­lebt, neu be­lebt wer­den. Et­was be­reits Auf­ge­ge­be­nes könn­te dann nicht mehr wie­der­be­lebt wer­den. Des­halb pro­bie­ren wir, die Ver­ei­ne zu hal­ten.» Die Ab­wan­de­rung ist al­so Be­dro­hung, die Zu­wan­de­rung ein Hoff­nungs­schim­mer.

«Es ist bereits ein Erfolg, wenn wir die Grösse behalten können. Aber meistens ist es tendenziell eher schrumpfen.»

Die Ver­an­stal­tung «‹Schrump­fen, wach­sen Grös­se hal­ten›» - Ur­ner Ge­mein­den im Sog von Ab­wan­de­rung und Zu­zug» des Pro­jekts Uri im Wan­del strahl­te ei­ne gros­se An­zie­hungs­kraft aus, vie­le Ge­mein­de­po­li­ti­ker aus­ser­halb Isenthals ver­sam­mel­ten sich an die­sem kal­ten No­vem­ber­abend vor zwei Jah­ren in der hei­me­li­gen Au­la. So auch den Gurt­nel­ler Land­rat Jo­sef In­der­kum. Er stell­te fest, dass Isen­thal und Gurt­nel­len trotz ih­rer ver­schie­de­nen Ty­po­gra­phie mit ähn­li­chen Pro­ble­men zu kämp­fen hät­ten. Das Geld fehlt, In­fra­struk­tur wie der Ban­ko­mat ver­schwin­det, eben­so wie die Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner.

Im ne­ga­ti­ven Sinn über­ragt Isen­thal je­doch: Die Ge­mein­de galt ge­mäss ei­ner Aus­wer­tung von «Schweiz ak­tu­ell» aus dem Jahr 2013 zu ei­ner der ärms­ten Ge­mein­den der Schweiz. 

Überstrahlt Altdorfs Glanz alle anderen Gemeinden?

In­wie­fern das Zen­trum Alt­dorf zah­len­mäs­sig un­ter dem Druck von Zu- und Weg­zug steht, ha­ben wir in die­sem Bei­trag be­reits ge­se­hen. Wenn An­to­nia Im­holz da­von spricht, sie und ihr Mann hät­ten ei­ni­ge Jah­re im «gros­sen Ort» Alt­dorf ge­lebt, sind die bei­den kein Ein­zel­fall. Zwi­schen 1981 und 2021 zie­hen 11'039 Per­so­nen, die in­ner­halb des Kan­tons um­zie­hen, nach Alt­dorf. Im glei­chen Zeit­raum zie­hen aber auch 9238 an ei­nen an­de­ren Ort im Kan­ton Uri. Das be­deu­tet aber nicht, dass Alt­dorf im Sin­ne des Wan­dels zu­legt und nicht ab­speckt. Urs Kä­lin er­in­nert sich an sei­ne Kind­heit, als gleich drei De­li­ka­tes­sen­lä­den ge­dörr­ten Aal oder Mu­scheln ver­kauft hät­ten. Sinn­bild­lich solch ei­nen Wan­del steht auch die Metz­ge­rei Ul­rich, die 2024 we­gen zu ge­rin­ger Nach­fra­ge nach 34 Jah­ren schlies­sen muss­te. Sol­che Ver­än­de­run­gen än­dern nicht nur das zur Ver­fü­gung ste­hen­de Kauf­an­ge­bot, son­dern auch das Dorf­bild. Das ist uni­ver­sell, aber im Un­ter­schied zu Alt­dorf kann der Ver­lust ei­nes oder des letz­ten Le­bens­mit­tel­ge­schäfts der Ab­wan­de­rung ei­nen Schub ver­lei­hen.

Freizeit und Vereine: Bürde oder Stabilisator?

Be­reits seit Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts ist sich die For­schung be­wusst, dass Ver­ei­ne so­wohl den Ver­eins­mit­glie­dern als auch ei­ner Ge­mein­de nut­zen. Freund­schaf­ten ent­ste­hen, neue Kon­tak­te kön­nen ge­knüpft wer­den, auch das Po­ten­zi­al für In­te­gra­ti­on steigt. Da­mit ste­hen in Ver­ei­nen ak­ti­ve Be­woh­ner ei­ner schrump­fen­den Ge­mein­de un­ter enor­mem Druck, denn: Je­der Ver­ein ist auf Men­schen an­ge­wie­sen, die Vor­stands­ver­ant­wor­tung. Wenn es dann noch heisst, je­des Ver­eins­mit­glied müs­se sich mal als Prä­si­den­tin oder Kas­sier en­ga­gie­ren, kann das ab­schre­ckend auf in­ter­es­sier­te, po­ten­zi­el­le Mit­glie­der wir­ken.

Ob nun heu­te die Ver­ei­ne mehr Ein­fluss auf die Ge­mein­den aus­üben oder um­ge­kehrt, lässt sich so ein­fach nicht be­ant­wor­ten. Ein Blick in die Zeit des Gott­hard­bahn­baus zeigt aber: Die vie­len Zu­zü­ger aus an­de­ren Kan­to­nen, die bei­spiels­wei­se als In­dus­trie- und Mi­li­tär­ka­der oder Ser­vice­per­so­nal in Uri leb­ten, hat­ten ei­nen gros­sen An­teil an der Mo­der­ni­sie­rung der Ur­ner Ge­sell­schaft. Die Zu­ge­zo­ge­nen in­iti­ier­ten re­spek­ti­ve be­schleu­nig­ten et­wa neue in­dus­tri­el­le Un­ter­neh­men oder wa­ren an der Schaf­fung von Kon­sum­ver­ei­nen und Wohn­bau­ge­nos­sen­schaf­ten be­tei­ligt. Die häu­fig re­for­mier­ten Zu­zü­ge­rin­nen und Zu­zü­ger be­wirk­ten denn auch, dass in Erst­feld die ers­te re­for­mier­te Kir­che des Kan­tons ge­baut wur­de. Es gab aber auch ei­nen ge­gen­tei­li­gen Ef­fekt: Ge­samt­schwei­ze­risch ge­se­hen hat die Mi­gra­ti­on um 1900 - aus­ge­löst durch die wirt­schaft­li­che Ent­wick­lung in die Rich­tung von In­dus­trie - da­zu ge­führt, dass vie­le Ur­ne­rin­nen und Ur­ner zwecks Lohn­er­werb in an­de­re Kan­to­ne ge­zo­gen sind. Dort wie­der­um stieg die «ka­tho­li­sche Dia­spo­ra» stark an, zwi­schen 1880 und 1910 in Zü­rich bei­spiels­wei­se von 19,3 auf 31,1 Pro­zent.[1]

Ver­ei­ne schei­nen ei­nen be­son­de­ren Wert für ab­ge­le­ge­ne­re Ge­mein­den in­ne­zu­ha­ben. Es ist ei­ne Chan­ce, Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner an ei­nen Ort zu bin­den. Wer aber im Ur­ner Re­us­s­tal lebt und schnell in ei­ni­gen Mi­nu­ten mit dem Ve­lo oder öf­fent­li­chen Ver­kehrs­mit­teln im Nach­bar­dorf ins Fuss­ball­trai­ning oder zur Chor­pro­be kann, hat nicht die­ses Po­ten­zi­al. Dar­über hin­aus kann der Ver­ein in der «Hei­mat­ge­mein­de» ein Grund sein, re­gel­mäs­sig in ei­ne Ge­mein­de zu­rück­zu­keh­ren. So zeigt sich zu­min­dest das Bild im Isen­thal.

Knapp 100 Jah­re spä­ter sind Er­werbs­mög­lich­kei­ten noch im­mer ein wich­ti­ger Trei­ber von Mi­gra­ti­on. Doch die Le­bens­ver­hält­nis­se, der All­tag, die Welt – al­les ist an­ders. Die Men­schen sind mo­bi­ler, wo­durch die Er­werbs­mög­lich­kei­ten in­ner­halb der Wohn­ge­mein­de ver­meint­lich we­ni­ger ei­ne Rol­le bei der Fra­ge, ob man in ei­ner Ge­mein­de woh­nen bleibt oder weg­zieht, spielt. Nichts­des­to­trotz sa­gen ei­ni­ge an­we­sen­de Isen­tha­le­rin­nen und Isen­tha­ler, ei­ne zwei­te re­spek­ti­ve er­wei­ter­te Stras­se wür­de der Ab­wan­de­rung ent­ge­gen­wir­ken. Seit 1901 sind Is­le­ten und Isen­thal mit ei­ner Stras­se ver­bun­den, seit den 1950er Jah­ren gibt es die Stras­se nach See­dorf.

Weiterführende Literatur

Verwendete Quellen:

Bernhard, Hans; Caflisch, Christian; Koller, Albert: Studien zur Gebirgsentvölkerung (Beiträge zur Agrargeographie), herausgegeben von Hans Bernhard, Bern 1928.

 

Verwendete Fachliteratur:

Altermatt, Urs: Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert (1989).

Born, David: Vereine als öffentliches Gut. Die sozio-politischen Wirkungen lokaler Schweizer Vereinslandschaften (2014).

Buff, Eva: Migration der Frau aus Berggebieten (1978), Geographisches und Soziologisches Institut der Universität Zürich.

Ineichen, Martina: Von der Not zur Selbsthilfe. Die Hilfsaktion des Schweizerischen Gemeinnützigen Frauenvereins zugunsten der Bergbevölkerung in der Zwischenkriegszeit (2010, Lizentiatsarbeit, Historisches Seminar Universität Basel.

Müller, Felix; Stadler, Hans: Artikel «Erstfeld», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.02.2018. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/000695/2018-02-07/, zuletzt konsultiert am 20.11.2025.

Bildnachweise

Alte Kolonie Erstfeld, Fotografie (ca. 1945), Staatsarchiv Uri. https://scope.ur.ch/scopeQuery/detail.aspx?ID=53596.

Anzahl Katholiken in 3 ausgewählten Schweizer Städten, 1880 und 1910

Zahlen bei Urs Altermatt 1989, S. 150.
ZH: von 15'151 (19,3%) auf 59'435 (31,3%)
BS: von 18'991 (30,8%) auf 44'914 (34%)
GE: von 35'115 (46,1%) auf 58'635 (47,6%)
 

Datenschutz: Lesen,