Angst, Anziehung, Arbeitslosigkeit: Die Gründe für Migration änderten sich die letzten 500 Jahre kaum

Chiara Zgraggen

Was treibt Men­schen an, von See­lis­berg nach Zü­rich oder von Ma­rok­ko nach Schatt­dorf zu zie­hen? Die­ses Ka­pi­tel be­leuch­tet die Trei­ber von Mi­gra­ti­on aus zwei Per­spek­ti­ven: Ei­ner­seits aus dem Blick­win­kel all je­ner Per­so­nen, die nach Uri ge­zo­gen sind, und an­de­rer­seits aus den Au­gen je­ner, die Uri den Rü­cken ge­kehrt ha­ben.

Die um 1915 entstandene Postkarte zeigt Göschenen als idyllischen, ruhigen Ort. Dabei hatte die Gemeinde zu diesem Zeitpunkt äusserst turbulente Jahre hinter sich. 
© ETH-Bibliothek Zürich.

«Be­dälä, chei­bä, tan­zä und schwit­zä / d’Tschö­pä ab­zieh und d’Är­mel um­elit­zä, / Hi­tä tan­zäd dr Jung und dr Alt, / d’Süü und dr Bock und dr Stier und s’Chalb.»[1]

Die drit­te Stro­phe des wohl be­kann­tes­ten Ur­ner Lie­des Zo­ge am Bo­ge de Land­am­me tanz­ed ver­sprüht das Ge­fühl ei­ner en­gen Ge­mein­schaft. Den ei­ge­nen Le­bens­mit­tel­punkt für län­ge­re Zeit an ei­nen an­de­ren Ort zu ver­le­gen – al­so zu mi­grie­ren – und so­mit nicht mehr Teil des Fes­tes und der Ge­mein­schaft von Jung und Alt zu sein, er­scheint da­bei als un­denk­ba­re Qual. Al­bert Jütz, Kom­po­nist der in­of­fi­zi­el­len Ur­ner Hym­ne, schreibt über Jung und Alt, Land­am­mann, Pfar­rer und Teu­fel, Schwein und Geiss, Stier und Kalb. Nicht aber über Mi­gra­ti­on. Das über­rascht, ver­än­dert doch die Ein­wan­de­rung tau­sen­der ita­lie­ni­scher Sai­son­niers ins­be­son­de­re Gösche­nen, wo Jütz 1900 ge­bo­ren wird und wo er bis zu sei­nem Weg­zug nach Zü­rich fürs Stu­di­um die Som­mer­mo­na­te ver­bringt, auf ei­nen Schlag grund­le­gend. Es herrscht sei­ner­zeit nicht nur Freu­de, Tru­bel und Hei­ter­keit im obe­ren Re­us­s­tal. Gösche­nen wan­delt sich fast über Nacht zu ei­nem an­de­ren Dorf. Der Grund für die­sen ra­san­ten Wan­del ist der Bau des zwi­schen 1872 und 1880 er­bau­ten Gott­hard­tun­nels.

Der Bau des Gotthardtunnels bedeutet für Teile des Kantons Uri eine grosse Migrationswelle. Die Fotografie ermöglicht einen Blick in die Arbeitsumstände der Arbeiter mit kleiner Dampflokomotive und einem sogenannten Arbeiterzug. Das Bild entstand zwischen 1872 und 1881.
© Gaston Braun, SBB Historic.

Göschenen wird zur Rekordgemeinde – in zweierlei Hinsicht

«Das syg ä Kom­märs gsy i den­nä Jahrä z Ge­schä­nä, käi Stäi isch uf­em an­därä bli­bä, unt das still Der­fli isch ufs­mal wält­be­kannt wordä. Ep­pä­diä sygs äu lus­tig zu­äg­an­gä, bs­un­ders a dä Zall­ta­gä. Dr gross Tresch, dr da­ma­lig Po­li­zischt, är syg uber zwee Me­ter grossä gsy, häig all Händ voll z tuä unt nit im­mer ä li­äch­tä Stand gha.»[2]

So heisst es in ei­ner An­ek­do­te zur Zeit En­de des 19. Jahr­hun­dert. Ein Dorf, wel­ches in­nert we­ni­ger Jah­re mit zeit­wei­len 3500 Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­nern die be­völ­ke­rungs­mäs­sig gröss­te Ge­mein­de des Kan­tons Uri ist und bis heu­te be­züg­lich ‹Aus­län­der­quo­te› die eu­ro­päi­sche Rang­lis­te an­führt (1880 le­ben in Gösche­nen 550 Schwei­zer Bür­ger und 2440 aus­län­di­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge, was ei­nem Aus­län­der­an­teil von 82 Pro­zent ent­spricht). In der Ur­ner Ge­schichts­schrei­bung spricht man gar von ei­nem «Über­rannt­wer­den» Gösche­nens. Der Grund für die Be­völ­ke­rungs­zu­nah­me: Der Bau des Gott­hard­ei­sen­bahn­tun­nels be­darf tau­sen­der Bau­ar­bei­ter. 

Was zieht die Menschen an einen anderen Ort?

So­mit sind wir beim Kern­the­ma die­ses Tex­tes an­ge­langt: Was sind die Trei­ber von Mi­gra­ti­on?

Über die Göschenerreuss führte eine Eisenbahnbrücke, wie diese Fotografie, die vor 1889 entstanden ist, zeigt. 
© Giorgio Sommer, SBB Historic.

Der ‹Fall Gösche­nen› ist ein im Ver­gleich zu Was­sen, das im Zu­ge des Gott­hard­tun­nel­baus eben­falls in­nert kur­zer Zeit stark an­wächst, ein be­son­de­rer. Denn nach Er­öff­nung des Gott­hard­tun­nels schrumpft auch hier die Ein­woh­ner­zahl stark, wo­für vor al­lem die star­ke Ab­wan­de­rung aus­län­di­scher Per­so­nen Ver­ur­sa­che­rin ist. Aber ins Au­ge fällt in Was­sen im Ge­gen­satz zu Gösche­nen die gleich­zei­ti­ge star­ke Ab­wan­de­rung von Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zern um 290 Per­so­nen bis 1888. In der Ur­ner Ge­schichts­schrei­bung wird die nicht nur Was­sen be­tref­fen­de star­ke Ab­wan­de­rung von Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zern zu die­ser Zeit den man­geln­den Er­werbs­mög­lich­kei­ten zu­ge­schrie­ben. Vie­le Ur­ne­rin­nen und Ur­ner – wie auch vie­le Schwei­ze­rin­nen und Schwei­zer – ver­le­gen ih­ren Le­bens­mit­tel­punkt nach Über­see, vor al­lem die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka schei­nen die Men­schen an­zu­zie­hen.

1888 wird die Schweiz gemäss Historikern vom Ein- zum Auswanderungsland (Holenstein; Kury; Schulz). Auf den Kanton Uri trifft das nur begrenzt zu.
Quelle: Bundesamt für Statistik (BfS): Eidgenössische Volkszählungen (1880, 1888, 1900, 1910, 1920); Material zur Auswanderung aus dem Kanton Uri (StaUR), Historische Statistik der Schweiz (1996).

Der Vor­wurf, die vor­wie­gend ita­lie­ni­schen Gast­ar­bei­te­rin­nen und Gast­ar­bei­ter sei­en schuld für die feh­len­den Ar­beits­plät­ze der Ur­ne­rin­nen und Ur­nern, ist aber zu kurz ge­grif­fen. Die Grün­de für die Aus­wan­de­rung sind viel­schich­tig und teils nicht re­kon­stru­ier­bar, auch weil Selbst­zeug­nis­se wie zum Bei­spiel Ta­ge­bü­cher oder Brief­wech­sel feh­len. Ei­nes ist aber si­cher: Ar­mut durch feh­len­de Er­werbs­mög­lich­kei­ten brin­gen Ita­lie­ne­rin­nen und Ita­lie­ner da­zu, im Kan­ton Uri ei­nem Er­werb nach­zu­ge­hen, und Ar­mut durch feh­len­de Er­werbs­mög­lich­kei­ten brin­gen Ur­ne­rin­nen und Ur­ner da­zu, in an­de­re Kan­to­ne oder gar ins Aus­land zu zie­hen. Feh­len­de Er­werbs­mög­lich­kei­ten am Wohn­ort sind auch heu­te ein zen­tra­ler Grund, wes­halb Men­schen von oder nach Uri mi­grie­ren.

Insgesamt 2500 Urner, Leventiner, Nidwaldner, Luzerner und Zuger sind anlässlich der Schlacht bei Arbedo 1422 im Einsatz. Diese Erwerbsmöglichkeit ist für viele Urner zu dieser Zeit essentiell.
©Benedikt Tschachtlan, Berner Chronik (1470), Zentralbibliothek Zürich.

Doch we­der im 20. noch im 19. Jahr­hun­dert ist die zu­min­dest zeit­wei­se Aus­wan­de­rung in­fol­ge feh­len­der Er­werbs­mög­lich­kei­ten ein neu­es Phä­no­men. Be­reits im Spät­mit­tel­al­ter ist Ar­beit knapp, ins­be­son­de­re in länd­li­chen Ge­bie­ten wie Uri. Auch des­halb flo­riert der (blu­ti­ge) Ex­port eid­ge­nös­si­scher oder eben Ur­ner Söld­ner.

Der Blick in die Vor­mo­der­ne zeigt: Die Ur­ner Ge­schich­te kann nicht oh­ne Mi­gra­ti­ons­ge­schich­te ge­schrie­ben wer­den, Wan­de­rungs­be­we­gun­gen sind schon lan­ge Teil der Kan­tons­ge­schich­te.

Wie der Vater, so der Sohn

Zeit­sprung ins letz­te Drit­tel des 20. Jahr­hun­derts.

Ab­ge­se­hen von Flucht hat sich in den von uns un­ter­such­ten Bei­spie­len ge­zeigt, dass es nicht ei­nen Trei­ber von Mi­gra­ti­on gibt. Ex­em­pla­risch zeigt sich das an der Fa­mi­lie Pet­ta. Der 17-jäh­ri­ge Ni­co­la Pet­ta ist 1975 so­eben mit der Schu­le fer­tig und be­sucht sei­nen Va­ter, der als Sai­son­nier für die Gas­pa­ri­ni AG im Stein­bruch ar­bei­tet. Weil vor Ort ei­ne hel­fen­de Hand ge­sucht wird, bleibt er und ar­bei­tet drei Mo­na­te im sel­ben Un­ter­neh­men wir sein Va­ter. Im No­vem­ber geht er wie­der zu­rück nach Ita­li­en, wo sei­ne Mut­ter und Schwes­ter noch im­mer le­ben. Doch be­reits drei Mo­na­te spä­ter, im Fe­bru­ar 1976, kehrt er nach Uri zu­rück. Ni­co­la Pet­ta hat­te sei­ne Ar­beit of­fen­bar gut ge­macht. Er hat nun selbst ei­nen Ver­trag als Sai­son­nier in der Ta­sche. Er darf für neun Mo­na­te in Uri ar­bei­ten. Neun Mo­na­te Uri, drei Mo­na­te Ita­li­en. So wird es für den jun­gen Ita­lie­ner noch zwei wei­te­re Jah­re wei­ter ge­hen, ehe er im Kan­ton Uri sess­haft wird.

Wie Nicola Petta in die Schweiz kam

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Mein Va­ter war ja da­mals schon hier. Und er hat im­mer ge­sagt, ich dür­fe ihn be­su­chen, wenn ich mit der Schu­le fer­tig sei. Er war Sai­son­nier, ar­bei­te­te drei bis vier Mo­na­te hier und kam dann zu­rück nach Ita­li­en. Mei­ne Mut­ter, Schwes­ter und ich wa­ren in Ita­li­en. So ging das je­weils. Als ich dann fer­tig war mit der Schu­le, kam ich in die Schweiz, ihn be­su­chen. Aber dann ha­ben sei­ne Kol­le­gen ge­sagt: Wir brau­chen ei­nen Jun­gen zum Schall­ta­feln­put­zen für [un­ver­ständ­lich] Ma­ga­zin. [Un­ver­ständ­lich] ha­be ich drei Mo­na­te hier ge­ar­bei­tet, das ers­te Mal. Im No­vem­ber ging ich zu­rück nach Ita­li­en. Und im Fe­bru­ar hat die Fir­ma Bau AG er­neut ei­nen Ver­trag ge­schickt für neun Mo­na­te. Und so bin ich wie­der ge­kom­men.[7]

Seit 1926, also beinahe seit 100 Jahren, bauen in Attinghausen Arbeiter der Gasperini AG Stein ab. Auf diesem Bild aus dem Jahre 1973 sehen wir vier Arbeiter auf einer kleinen Dampflokomotive.
©Staatsarchiv Uri.

Migration von Italien nach Uri: oder Das Los aller Migranten aus dem Ausland

Der Grund, in Uri zu blei­ben, ist im Fal­le der Pet­tas wie­der­um ein an­de­rer: Die Lie­be. Im Aus­gang hat­te Ni­co­la Pet­ta Mo­ni­ca ken­nen­ge­lernt. Fünf Jah­re nach sei­ner ers­ten Ar­beits­stel­le in Uri hei­ra­tet das Paar und grün­det ei­ne Fa­mi­lie. 2023, fast 50 Jah­re spä­ter, wird Ni­co­la Pet­ta früh­pen­sio­niert. Zu­vor hat­te er wäh­rend 43 Jah­ren in der Dät­wy­ler AG ge­ar­bei­tet. Sei­ne Frau Mo­ni­ca ar­bei­tet noch heu­te im dor­ti­gen La­bor – seit nun­mehr 27 Jah­ren. Doch an­ders als ihr Mann ist sie in Uri auf­ge­wach­sen. Als Mo­ni­ca Pet­ta zwei Jah­re alt war, sind ih­re El­tern nach Uri ge­zo­gen. Die bei­den ge­hör(t)en al­so bei­de zur Grup­pe ita­lie­ni­scher Mi­gran­ten, sind aber in ei­ner an­de­ren Ge­ne­ra­ti­on re­spek­ti­ve Zeit in die Schweiz ge­kom­men. Nichts­des­to­trotz ha­ben sie die­sel­ben Dis­kri­mi­nie­rungs­er­fah­run­gen ge­macht. Und bei­de er­zäh­len, dass die Ge­ne­ra­ti­on je­ner, die noch frü­her in die Schweiz kam, noch­mals stär­ke­re Dis­kri­mi­nie­rung er­lebt hat­te.

Monica und Nicola Petta über Diskriminierungserfahrungen

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Ra­hel Wun­der­li: Ein The­ma, das mich noch in­ter­es­siert, ist fol­gen­des: Ihr seid bes­tens in­te­griert, sprecht die Spra­che, aber auf ei­nem Po­di­um spre­chen [NP: Ich nicht!], das kommt nicht in Fra­ge [für euch]. Da fra­ge ich mich...
Mo­ni­ca Pet­ta: Aber es gibt doch si­cher an­de­re Leu­te, die mehr zu er­zäh­len ha­ben [als wir].
Ra­hel Wun­der­li: Was wä­re denn «mehr zu er­zäh­len»?
Mo­ni­ca Pet­ta: Nun, er [Ni­co­la Pet­ta] kam mit 17 Jah­ren, aber die­ser Va­len­te... Es gibt sol­che, die ha­ben wirk­lich [har­te Din­ge er­lebt].
Ni­co­la Pet­ta: Aber die sind doch al­le ge­stor­ben. Es gibt ja nur noch [bei­de nen­nen wei­te­re Na­men].
Mo­ni­ca Pet­ta: Die ha­ben viel mehr zu er­zäh­len.
Ra­hel Wun­der­li: Weil sie die ers­te Ge­ne­ra­ti­on wa­ren?
Mo­ni­ca Pet­ta: Ja, und die ha­ben auch die­ses Ju­gend­ding er­lebt, ka­men mit 16, 15, 14 Jah­ren.
Ni­co­la Pet­ta: Aber [Per­son X] kam auch mit 20 Jah­ren in die Schweiz.
Mo­ni­ca Pet­ta: Ja, aber eben oh­ne Schul­bil­dung. Das war et­was ganz an­de­res.
Ra­hel Wun­der­li: In­wie­fern et­was an­de­res?
Mo­ni­ca Pet­ta: Weisst du, die [Ita­lie­ner da­mals] gin­gen in den Aus­gang und [hör­ten Din­ge wie] «Die Ita­lie­ner neh­men den Schwei­zern die Frau­en weg.» Sol­che Ge­schich­ten, weisst du. Oder wenn je­mand ein krum­mes Ding dreh­te, dann wa­ren al­le Ita­lie­ner schuld. Die ha­ben si­cher an­de­res [er­lebt]...
Ra­hel Wun­der­li: Här­ter, meinst du?
Mo­ni­ca Pet­ta: Ja. Das ist es ei­gent­lich, was man [auf ein Po­di­um] brin­gen soll­te.
Ra­hel Wun­der­li: Die har­ten Ge­schich­ten.
Mo­ni­ca Pet­ta: Ja.[7]

Die Wahr­neh­mung von Be­nach­tei­li­gung, Dis­kri­mi­nie­rung oder gar Hass kann sich stark un­ter­schei­den. Das zeig­te sich im Rah­men der Po­di­ums­ver­an­stal­tung «Kom­men, blei­ben, ge­hen» des Dia­log­pro­jekts vom Sep­tem­ber 2023 in Erst­feld. Ei­ne Be­su­che­rin und ehe­ma­li­ge Mit­ar­bei­te­rin auf dem Per­so­nal­bü­ro der Dät­wy­ler AG er­zählt, dass der Aus­län­der­hass wäh­rend den 1970er-Jah­ren im Kan­ton Uri gross war. In Zei­ten der Schwar­zen­bachinitia­ti­ve sei­en Men­schen auf­grund ih­rer Her­kunft dis­kri­mi­niert und schub­la­di­siert wor­den – oder wie sie es sagt: «Da wa­ren ge­wis­se Leu­te wirk­lich nur ‹der Tschingg›».

Über die Zeit des Hasses auf Italiener in Uri

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Be­su­che­rin des Po­di­ums in Erst­feld: Ich möch­te noch­mals auf Bru­no Pran­di zu spre­chen kom­men. Er ist in der Zeit in die Schu­le ge­kom­men, als die Schwar­zen­bach-In­itia­ti­ve stark war. Da gab es nicht viel zu la­chen. Ich ha­be da­zu­mal auf dem Per­so­nal­bü­ro der Dät­wy­ler AG ge­ar­bei­tet, da wa­ren ge­wis­se Leu­te wirk­lich nur «der Tschingg». Da­hin­ge­hend kann ich sei­ne Re­ak­ti­on und Sen­si­bi­li­tät ver­ste­hen. Er hat­te ja auch ei­ne Schwei­zer Mut­ter, so war er im­mer zwi­schen zwei Kul­tu­ren und hat das nicht er­tra­gen. Al­so er ist in ei­ner Zeit zur Schu­le ge­gan­gen, als der Aus­län­der­hass auch im Kan­ton Uri sehr gross war.
Adria­na Stad­ler: Ich mag mich ge­ra­de dar­an er­in­nern, dass ich ein Mäd­chen ver­prü­gelt ha­be, weil sie mich «Tschingg» ge­nannt hat.
Ra­hel Wun­der­li: Die­ses Wort ist sehr in­ter­es­sant, wie auch das In­ter­view mit Mo­ni­ka und Ni­co­la Pet­ta ge­zeigt hat. Dort ist die­ses Wort zur Spra­che ge­kom­men. Wie es über Jahr­zehn­te bei den Leu­ten ein­ge­brannt ist. Sie hat er­zählt, wie sie sich kürz­lich sehr dar­über auf­ge­regt hat, als die­ses Wort wie­der­auf­kam, und ihr Sohn ha­be ihr ge­sagt «Was regst Du Dich so auf?». Da ha­be sie ge­sagt, er kön­ne nicht ver­ste­hen, was die­ses Wort für sie be­deu­tet ha­be. Das sei so dis­kri­mi­nie­rend und aus­gren­zend ge­we­sen, bis heu­te hal­le das nach. Aber für ih­re Kin­der sei die­ses Wort an­ders kon­no­tiert.
Matteo Sche­nar­di: Mei­ne Gross­el­tern ha­ben auch er­zählt, dass auf das Haus, in dem sie ge­wohnt hat­ten, je­mand gross «Si­uw-Tschingg» (Ita­lie­ner­schwein) ge­schrie­ben ha­be.
Chia­ra Zgrag­gen: Mir ist von die­sem In­ter­view stark ge­blie­ben, dass Mo­ni­ka Pet­ta ge­sagt hat, dass sich der star­ke Hass ge­gen­über ita­lie­ni­schen Män­nern ge­zeigt hät­te in­dem ge­sagt wur­de, sie wür­den den Män­nern hier die Frau­en weg­neh­men, und dass wenn et­was im Aus­gang pas­siert sei, im­mer au­to­ma­tisch «die Ita­lie­ner» schuld ge­we­sen sei­en. Das war sehr ein­drück­lich und zeigt ein Mus­ter, das es noch heu­te gibt, aber mit an­de­ren ein­ge­wan­der­ten Per­so­nen­grup­pen als Op­fer – ein Mus­ter, das sich durch­zu­zie­hen scheint.[4]

Vom Bau von Kurhotels Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts profitieren die Urner Arbeitnehmer kaum.
©ETH-Bibliothek Zürich.

Der Glanz des Anderen, des Neuen

Mi­gra­ti­on, die Ab­wan­de­rung aus dem Kan­ton Uri in Schwei­zer Städ­te, stellt ins­be­son­de­re ab­ge­le­ge­ne­re Ge­mein­den vor Schwie­rig­kei­ten. Doch die Sog­wir­kung der Stadt – mög­li­cher­wei­se ver­bun­den mit er­wei­ter­ten Er­werbs­mög­lich­kei­ten – ist im 21. Jahr­hun­dert ein wei­te­rer Trei­ber der Mi­gra­ti­on.

Regierungsrat Urs Janett über den gesellschaftlichen Wandel als Faktor, wegzuziehen

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Urs Ja­nett, Ur­ner Re­gie­rungs­rat (FDP): Aber auch das [Ab­wan­de­rung aus ab­ge­le­ge­ne­ren Dör­fern] hat mit ei­nem ge­sell­schaft­li­chen Wan­del zu tun. Wir mer­ken das im gan­zen Kan­ton, zum Bei­spiel an­hand der Leu­te, die ei­ne Ma­tu­ra ma­chen. Von mei­ner Ma­tu­ra­klas­se le­ben noch zwei Per­so­nen im Kan­ton, das hat nichts da­mit zu tun, dass Uri schlecht er­schlos­sen oder lang­wei­lig ist. Ich fin­de, Uri ist der bes­te Kan­ton und ich möch­te an kei­nem an­de­ren Ort le­ben. Die Jun­gen zieht es der­zeit eher in die Städ­te, aber viel­leicht än­dert sich das ir­gend­wann ein­mal wie­der. Das hat ein Stück weit auch mit ei­nem ge­sell­schaft­li­chen Wan­del zu tun.[3]

Ein wei­te­res Pot­pour­ri an Grün­den zur Mi­gra­ti­on se­hen wir bei der in Ma­rok­ko auf­ge­wach­se­nen Kaou­t­ar Zgrag­gen. Gleich­sam wie Yo­sief Tel­la, der aus Eri­trea als Flücht­ling nach Uri kam, mi­grier­te sie in­fol­ge un­si­che­rer Um­stän­de in ih­rem Her­kunfts­land. Der aus­schlag­ge­ben­de und das Pot­pur­ri er­wei­tern­der Grund war bei ihr die Lie­be. Oh­ne den Ur­ner, den sie bei der Ar­beit im Tou­ris­mus­be­reich ken­nen­ge­lernt hat­te, wä­re sie wahr­schein­lich nicht über 2800 Ki­lo­me­ter aus ih­rer Hei­mat weg­ge­zo­gen.

Zu­sam­men­fas­send se­hen wir, dass sel­ten nur ein Grund vor­herrscht, um zu mi­grie­ren. Das ist heu­te und war wahr­schein­lich auch frü­her so[5]. Si­cher ist: Die Mi­gra­ti­on in grös­se­rer Zahl ver­än­dert Ort­schaf­ten - so­wohl die ver­las­se­nen, als auch die be­tre­te­nen.

Gast- und Baugewerbe sind auf Migration angewiesen

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Im Gast­haus, da ha­ben wir vie­le, die aus Deutsch­land oder Ita­li­en im­mer wie­der bei uns die Som­mer­sai­son ver­brin­gen. Durch die Ar­beit in­te­grie­ren sie [die Gast­ar­bei­ter] sich. Wie sie plötz­lich am Stamm­tisch mit den Gösch­ne­rälp­lern zu­sam­men­sit­zen, ist schon schön zu er­le­ben, wie auch die Wert­schät­zung [der Ein­hei­mi­schen], dass ich glau­be, ge­ra­de die Gas­tro­no­mie oh­ne Im­mi­gra­ti­on gar nicht funk­tio­nie­ren wür­de. Ich den­ke vie­le Bran­chen [sind auf Im­mi­gra­ti­on an­ge­wie­sen], wie auch das Bau­ge­wer­be. Ich glau­be [oh­ne Im­mi­gra­ti­on] wür­de nicht man­ches Haus in der Schweiz ste­hen. [6]

Weiterführende Literatur

Verwendete Quellen:

Bundesamt für Statistik (BfS): Eidgenössische Volkszählungen (1880, 1888, 1900, 1910).

Staatsarchiv Uri (StaUR): AKT 362-29/6, Unterlagen des Kantons Uri zur schweizerischen Auswanderungsstatistik 1879-1880; AKT 362-29/7, Unterlagen des Kantons Uri zur schweizerischen Auswanderungsstatistik 1880-1881; AKT 362-29/8, Unterlagen des Kantons Uri zur schweizerischen Auswanderungsstatistik 1881-1882; AKT 362-29/10.2, Unterlagen des Kantons Uri zur schweizerischen Auswanderungsstatistik, mit Vergleichen zu früheren Jahren; AKT 362-29/100, Unterlagen des Kantons Uri zur schweizerischen Auswanderung.
 

Verwendete Fachliteratur:

Aebersold, Rolf; Aschwanden, Ralph; Gasser, Helmi; Gisler, Rolf; Kälin, Urs; Kuhn, Hans Jörg; Stadler Pascal; Stadler-Planzer Hans: Artikel «Uri», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 15.01.2021. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007384/2021-01-15/, zuletzt konsultiert am 02.08.2025.

Aschwanden, Felix: Neues Urner Mundart Wörterbuch, basierend auf dem Urner Mundart Wörterbuch (1982) von Felix Aschwanden und Walter Clauss, 2. Auflage, Altdorf 2013.

Bernhard, Hans; Caflisch, Christian; Koller, Albert: Studien zur Gebirgsentvölkerung (Beiträge zur Agrargeographie), herausgegeben von Hans Bernhard, Bern 1928.

Binnenkade, Alexandra: Fremde Ordnung. Konflikte zwischen Italienern und Göschenern während der Bauzeit des Gotthardtunnels, in: Alexandra Binnenkade, Aram Mattioli (Hg.), Die Innerschweiz im frühen Bundesstaat (1848-1874). Gesellschaftsgeschichtliche Annäherungen, Luzern 1992, S. 141–158.

Fryberg, Stefan: Die Hochblüte des Urner Tourismus nach dem Bau der Gotthardbahn, in: Historisches Neujahrsblatt/Historischer Verein Uri 106 (2015), S. 89–117. https://doi.org/10.5169/seals-842130.

Graf, Flurina: Migration in den Alpen. Handlungsspielräume und Perspektiven, Bielefeld 2021.

Holenstein, André; Kury, Patrick; Schulz, Kristina: Schweizer Migrationsgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Baden 2018.

Kälin, Urs: 100 Jahre in der SPur. 100 Jahre Sozialdemokratische Partei des Kantons Uri, Altdorf 2007.

Landwehr, Dominik: Die Schwarzenbach-Initiative, in: Blog des Schweizerischen Nationalmuseums, zuletzt konsultiert am 20.08.2025. Online: https://blog.nationalmuseum.ch/2020/06/schwarzenbach-initiative/.

Ritzmann-Blickenstorfer, Heiner: Historische Statistik der Schweiz, Zürich 1996.

Ritzmann-Blickenstorfer, Heiner: Bestimmungsgründe der schweizerischen Überseeauswanderung im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 8 (1990), S. 237–266.

Schelbert, Leo: Einführung in die Schweizerische Auswanderungsgeschichte der Neuzeit, Zürich 1976.

Scheuerer, Silvia: Luxustourismus in Andermatt: Eine 150-jährige Geschichte, in: Der Geschichtsfreund. Mitteilungen des Historischen Vereins Zentralschweiz 164 (2011), S. 285–308. https://doi.org/10.5169/seals-513943.

Stadler-Planzer, Hans: Geschichte des Landes Uri, Bd. 2a, Schattdorf 2015.

Töngi, Claudia: Um Leib und Leben. Gewalt, Konflikt und Geschlecht im Uri des 19. Jahrhunderts, Zürich 2004.

Zgraggen, Chiara: Heimat adé – Auswanderung aus Uri zwischen Bauboom und Armut. Aspekte der Überseeauswanderung aus dem Kanton Uri am Ende des 19. Jahrhunderts (Seminararbeit bei Prof. Dr. Patrick Kury), Universität Luzern 2024.

Zurfluh, Kurt: Steinige Pfade. 160 Jahre Urner Wirtschaftsgeschichte, Altdorf 1990.

Bildnachweise

Benedikt Tschachtlan, Das Kriegslager der Truppen von Uri, Luzern, Unterwalden und Bei bei Arbedo im Jahr 1422, kolorierte Federzeichnung, in: Berner Chronik, 1470, Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Sign. Ms. A 120, S. 570.

Gaston Braun, Tunnelportal in Göschenen mit kleiner Dampflokomotive und Arbeiterzug, zwischen 1872 und 1881, Albumin-Abzug aufgezogen auf bedruckten Trägerkarton, SBB Historic, Sign. F_111_00003_076. https://www.sbbarchiv.ch/detail.aspx?ID=482482.

Giorgio Sommer, Eisenbahn und -brücke über der Reuss, um 1889, Albumin-Abzug, 25 x 32 cm, SBB Historic, Sign. F_111_00001_024. https://www.sbbarchiv.ch/detail.aspx?ID=444060.

Giorgio Sommer, Hotel Sommerberg Seelisberg, Fotografie, 1875/1900, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Sign. Ans_05203-001. http://doi.org/10.3932/ethz-a-000088708

Göschenen und Riental, vor 1915, Postkarte, 9 x 14 cm, ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Sig. PK_000314. http://doi.org/10.3932/ethz-a-000257553.

Steinbruch Attinghausen mit kleiner Dampflokomotive, Staatsarchiv Uri, Sig. 112.04-BI-1973. https://scope.ur.ch/scopeQuery/detail.aspx?ID=52673.

Übersetzung ins Hochdeutsche

«Mit den Schuhen im Takt auf den Boden trommelnd tanzen, ausgelassen feiern, tanzen und schwitzen / die Jacke ausziehen und die Ärmel hochkrempeln, / Heute tanzen jung und alt, / das Schwein und der Ziegenbock und der Stier und das Kalb.» 

(Übersetzt mit Unterstützung des Neuen Urner Mundart Wörterbuchs von Felix Aschwanden und Walter Clauss, 2. Auflage 2013.)

Übersetzung ins Hochdeutsche

«Es sei sehr umtriebig gewesen mit viel Gerede, Lärm und Geschäftigkeit in diesen Jahren in Göschenen, kein Stein ist auf dem anderen geblieben, und das ruhige Dörfchen sei plötzlich weltbekannt geworden. Zuweilen sei es auch lustig zu- und hergegangen, besondern an den Zahltagen. Der grosse Tresch, der damalige Polizist, sei über zwei Meter gross gewesen, hätte alle Hände voll zu tun und nicht immer einen einfachen Stand gehabt.» 

(Übersetzt mit Unterstützung des Neuen Urner Mundart Wörterbuchs von Felix Aschwanden und Walter Clauss, 2. Auflage 2013.)

Hintergrund der Aufnahme

Urs Janett spricht hier an der Veranstaltung «‹Schrumpfen, wachsen Grösse halten› - Urner Gemeinden im Sog von Abwanderung und Zuzug» des Forschungsprojekts «Uri im Wandel. Bevölkerung und Wissenschaft im Dialog» (Urner Institut Kulturen der Alpen) vom 20. November 2023 im Isenthal.

Hintergrund der Aufnahme

Die Personen sprechen hier an der Podiumsveranstaltung «‹Kommen bleiben gehen› - Uri und die Migration» des Forschungsprojekts «Uri im Wandel. Bevölkerung und Wissenschaft im Dialog» (Urner Institut Kulturen der Alpen) vom 28. September 2023 in Erstfeld.

Schwierigkeiten der Erforschung von Urner Migrationsgeschichte

Es gibt kaum zugängliche Selbstzeugnisse von Urnerinnen und Urnern, die um die Wende zum 20. Jahrhundert nach Übersee migriert sind. Deshalb lässt sich einzig aufgrund von Zahlenmaterial erahnen, welche Gründe die Menschen weggezogen hat.

Verfügen Sie über Dokumente (Tagebücher, Briefe usw) oder Bilder von Verwandten oder Bekannten, die zwischen 1850 und 1950 nach Übersee ausgewandert sind, und haben Interesse, das Material zugunsten der Geschichtsforschung mit uns zu teilen? Dann melden Sie sich gerne bei uns via Mail unter chiara.zgraggen@unilu.ch oder telefonisch unter der Nummer +41 41 229 56 85.

Hintergrund der Aufnahme

Seraina Wicky, Betreiberin des Gasthauses Göscheneralp, hier am Forum «Junge gehen, Fremde kommen: Uri und die Migration» des Forschungsprojekts «Uri im Wandel. Bevölkerung und Wissenschaft im Dialog» (Urner Institut Kulturen der Alpen) vom 22. Juni in Göschenen über die Notwendigkeit von Migration für bestimmte Wirtschaftszweige.

Hintergrund der Aufnahme

Das Ehepaar Petta ist dem Forschungsprojekt «Uri im Wandel. Bevölkerung und Wissenschaft im Dialog» (Urner Institut Kulturen der Alpen) für ein Interview zur Verfügung gestanden. Das Gespräch fand am 10. Juli 2023 in der Küche des Ehepaars in Erstfeld statt und wurde von der Projektleiterin Rahel Wunderli geführt.

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