Uri zu verlassen für eine Ausbildung ist eine weitverbreitete Erfahrung nicht nur der heutigen jungen Urnerinnen und Urner, sondern auch in früheren Jahrhunderten. Bild: Website der Urner Studierendenverbindung an der Universität Zürich

Zu- und Wegzug ist omnipräsent. Urner Migration in Zahlen

Chiara Zgraggen

Die Jun­gen zie­hen nach Alt­dorf, al­le Ge­mein­den aus­ser­halb des Un­te­ren Re­us­s­tals ha­ben mit Über­al­te­rung und Ab­wan­de­rung zu kämp­fen. Die­ser Bei­trag be­fasst sich mit zwei Kli­schees zur Mi­gra­ti­on im Kan­ton Uri.

Mi­gra­ti­on ist ein dy­na­mi­scher Pro­zess. Zu- und Weg­zug kann sich in­nert kur­zer Zeit ver­än­dern, und in Ge­mein­den mit we­ni­gen Ein­woh­nern fal­len klei­ne Ver­än­de­run­gen in der Be­völ­ke­rungs­an­zahl mehr ins Au­ge als in Ge­mein­den mit mehr Po­pu­la­ti­on. Klei­ne Ver­än­de­run­gen fal­len aber auch mehr ins Ge­wicht in klei­ne­ren Ge­mein­den. Zah­len kön­nen nur ei­nen Teil der Le­bens­rea­li­tät in Ge­mein­den wi­der­spie­geln. Wel­che Aus­wir­kun­gen Mi­gra­ti­on in der Le­bens­rea­li­tät von Ur­ne­rin­nen und Ur­nern hat - so ge­sagt das Ge­gen­stück zu die­sem Text - le­sen sie hier.

1. Ziehen alle «Jungen» nach Altdorf? Und wächst der Hauptort schneller zu Lasten der kleineren Urner Gemeinden?

Stimmt das Kli­schee, wo­nach Alt­dorf jün­ge­re Per­so­nen «ma­gisch an­zieht»? Im Zeit­raum zwi­schen 2011 und 2021 sind 6221 Per­so­nen zwi­schen 20 und 29 Jah­ren in­ner­halb des Kan­tons Uri von ei­ner Ge­mein­de in ei­ne an­de­re Ur­ner Ge­mein­de ge­zo­gen. 3545 al­ler um­ge­zo­ge­ner Per­so­nen (57%) zog es nach Alt­dorf. Die Grup­pe nach Alt­dorf ge­zo­ge­ner be­steht aus gut 40% 20- bis 29-Jäh­ri­ger (1466 Per­so­nen). Ei­ne Sog­wir­kung ist so­mit denk­bar. 

Wer aber ge­nau­er hin­sieht be­merkt, dass die Strahl­wir­kung nur bis zu den Gren­zen der Un­te­ren Re­us­s­tals reicht. Die Zu­zugs­ge­mein­den der 20- bis 29-Jäh­ri­gen set­zen sich zu gros­sen Tei­len (65%) aus Be­woh­nern der Nach­bar­ge­mein­den zu­sam­men. Es sind Schatt­dorf (25% al­ler Zu­ge­zo­ge­ner in die­ser Al­ters­grup­pe), Bürglen (16%), Erst­feld (14%) und Flüelen (10%).[1]

2. Die Bahn bestimmt die Bevölkerungszahl in Erstfeld

Die meis­ten Ge­mein­den des Un­te­ren Re­us­s­tals ver­bu­chen seit 1960er-Jah­ren ein Be­völ­ke­rungs­wachs­tum. Schatt­dorf bei­spiels­wei­se ver­dop­pelt sei­ne Ein­woh­ner­zahl in­ner­halb von 60 Jah­ren auf 5408 Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner 2020. Auf Schatt­dorfs Nach­bar­ge­mein­de Erst­feld, das «Ei­sen­bah­ner­dorf», trifft das aber nicht zu: Seit 1970 büsst Erst­feld in klei­nem Aus­mass, aber kon­ti­nu­ier­lich an Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­nern ein. 

Rolf In­fan­ger, Prä­si­dent des Ur­ner Ge­mein­de­ver­bands, spricht hier­bei an der Ver­an­stal­tung des Dia­log­pro­jekts «Schrump­fen, wach­sen, Grös­se hal­ten» vom No­vem­ber 2023 im Isen­thal über das Erst­fel­der «Klum­pen­ri­si­ko».

Rolf Infanger, Präsident des Urner Gemeindeverbands, über das Erstfelder «Klumpenrisiko»

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Aus der gan­zen Schweiz sind Leu­te nach Erst­feld ge­zo­gen. Das Klum­pen­ri­si­ko für Erst­feld war dann aber auch die Ei­sen­bahn – das, was die Ge­mein­de gross und stark ge­macht hat, hat sie nach­her auch wie­der klein ge­macht. Als die Ei­sen­bahn Stel­len­ab­bau be­trie­ben hat, sind vie­le wie­der weg­ge­zo­gen nach Rot­kreuz, Gold­au oder wo­hin auch im­mer. Und plötz­lich hat­te Erst­feld viel Leer­raum. Das kann auch die Ge­fahr sein, wenn man ein­mal wächst und schnell schrumpft. Der Leer­raum wird häu­fig nicht von den Leu­ten ge­füllt, die man aus Sicht der Ge­mein­de­fi­nan­zen ger­ne hät­te. Dann kom­men Leu­te, die zu Be­ginn den Wohn­raum viel­leicht noch be­zah­len kön­nen, den Job aber nicht mehr ha­ben und auf So­zi­al­hil­fe an­ge­wie­sen sind. Wach­sen kann nicht im­mer nur gut sein.

Die SBB zie­hen sich spä­tes­tens ab den 1990er-Jah­ren lang­sam vom Ge­schäft in der noch im­mer von Uri Tou­ris­mus als «Ei­sen­bah­ner­dorf» be­zeich­ne­ten Ge­mein­de Erst­feld zu­rück. In der Fol­ge ge­hen vie­le Ar­beits­plät­ze ver­lo­ren, da die Haupt­auf­ga­be - das Stel­len der Lo­ko­mo­ti­ven für den zu­sätz­li­chen Schie­be- und Vor­spann­dienst - we­gen tech­ni­schen Er­neue­run­gen ent­fällt. Der stär­ke­re Weg­zug be­ginnt aber be­reits zwi­schen 1970 und 1980. Gra­vie­ren­der als die Ab­nah­me von gut 500 Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner über zwi­schen 1970 und 2020 scheint der de­mo­gra­fi­sche Wan­del: 1970 sind 11 Pro­zent al­ler Ein­woh­ner 65 Jah­re oder äl­ter, 5 Pro­zent sind zwi­schen 60 und 64 Jah­ren als – ins­ge­samt al­so sind 16 Pro­zent al­ler Erst­fel­de­rin­nen und Erst­fel­der be­reits pen­sio­niert oder ste­hen kurz da­vor. 2020 sind es bei­na­he ein Drit­tel, ge­nau­er 32 Pro­zent (ein Vier­tel al­so 26 % sind 65 Jah­re oder äl­ter, 6% sind zwi­schen 60 und 64 Jah­re alt). Die An­zahl 0 bis 14-Jäh­ri­ger hat sich in­nert die­ser Zeit hal­biert (von 30% auf 15%).

Der Be­völ­ke­rungs­schwund könn­te den­sel­ben Aus­lö­ser ha­ben wie zwi­schen 1880 und 1910, als sich die Ein­woh­ner­zahl bei­na­he ver­drei­fach­te: Die Ei­sen­bahn, die ab En­de des 19. Jahr­hun­derts ei­nen Be­völ­ke­rungs­an­zahl­schub und so­mit auch ei­nen Bau­boom in Erst­feld aus­löst, bie­tet bis En­de des 20. Jahr­hun­derts vie­len Men­schen Ar­beit.[2]

Georg Baumgartner – ein Politiker handelt

Der Be­völ­ke­rungs­rück­gang in ent­le­ge­ne­ren Ge­bie­ten ist nicht nur ein Phä­no­men des 21. Jahr­hun­derts. Be­reits vor 100 Jah­ren kommt es durch die «Mo­ti­on be­tref­fend Mass­nah­men ge­gen die Ent­völ­ke­rung der Berg­ge­bie­te» des Zür­cher Na­tio­nal­rats Ge­org Baum­ber­ger (CVP) aufs po­li­ti­sche Par­kett. Der Ma­gis­trat for­dert mit sei­ner Mo­ti­on vom 2. De­zem­ber 1924 den Bun­des­rat auf, ei­ne Un­ter­su­chung der Le­bens­ver­hält­nis­se ent­völ­ker­ter Berg­ge­bie­te ein­zu­lei­ten und Mass­nah­men ge­gen Ab­wan­de­rung zu for­mu­lie­ren.

Die Wis­sen­schaft­ler wähl­ten Un­ter­su­chungs­ge­mein­den nach drei Kri­te­ri­en aus: 1. Grad der Ent­völ­ke­rung; 2. Re­gio­na­le Ver­tei­lung der Bei­spiels­ge­mein­den über das Al­pen­ge­biet; 3. Wirt­schaft­li­che Ei­gen­art der Bei­spiels­ge­mein­den.[3] Auf­grund des be­grenz­ten Bud­gets konn­ten we­ni­ger Ge­mein­den, ge­nau­er de­ren 50, un­ter­sucht wer­den. In der Zen­tral­schweiz wa­ren dies Re­alp, Was­sen, Alp­thal, Em­met­ten, Lun­gern, Flüh­li, Lu­thern und Elm. Ur­sprüng­lich hat­ten die Stu­di­en­au­toren statt Was­sen Hos­pen­tal im Blick. Nichts­des­to­trotz kon­zen­trier­ten sie sich auf Was­sen, das zwar zur Zeit der Stu­die an Be­völ­ke­rung zu­nahm, den­noch sei Was­sen ge­eig­net, und zwar «we­gen der Ort­schaft Mei­en, dem ei­gent­li­chen Ent­völ­ke­rungs­herd, der zu­dem wirt­schaft­lich tief­stehen­de Ver­hält­nis­se auf­weist, […].»[4] Im Fal­le bei­der Ge­mein­den kom­men die Stu­di­en­au­toren zum Schluss, dass feh­len­de Er­werbs­mög­lich­kei­ten der Haupt­grund für die Ab- oder gar Aus­wan­de­rung wa­ren.

Trügerische Zahlen

Die Ana­ly­se und der Ver­gleich von Zu- und Ab­wan­de­rungs­zah­len in Ur­ner Ge­mein­den ist gar nicht so ein­fach, wie man sich das vor­stel­len mag. Pro­zent­zah­len er­wei­sen sich häu­fig als be­trü­ge­ri­sche Gross­mäu­ler, die auf den ers­ten Blick täu­schen. Die ein ver­zerr­tes Bild dar­stel­len.

Ein Bei­spiel hier­für ist der Ver­gleich des ge­sam­ten Weg­zugs zwi­schen Alt­dorf und Re­alp. 1980 sind in Alt­dorf 492 Per­so­nen Weg­ge­zo­gen, 6% al­ler Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner (ins­ge­samt 8230 Per­so­nen). In Re­alp wa­ren es 40 Per­so­nen, al­so we­ni­ger als ei­nen Zehn­tel. Doch ver­gli­chen mit der An­zahl Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­ner (308 Per­so­nen) sind es 13%. 40 Per­so­nen be­deu­ten in Re­alp ei­ne Men­ge Leu­te, in Alt­dorf zählt es wohl zum «Dai­ly Busi­ness».

Bundesamt für Statistik, STATPOP.

 Detaillierte Daten wie Alter und neuer Wohnort gibt es erst ab 2011.

 Im Gegensatz zu Göschenen zogen vor allem Schweizer und deutschsprachige Personen nach Erstfeld. Mehr dazu können Sie hier lesen.

Bernhard 1928, S. 127.

Bernhard 1928, S. 193.

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