Der FC Azzurri Altdorf (hier 1994) entstand 1968  auf Initiative des italienischen Milieus als eigenständige Mannschaft und Verein des FC Altdorf. © Giovanni Aprile

Milieus von Zugezogenen: Anker in der Fremde

Rahel Wunderli

Was ha­ben ei­ne Ur­ner Stu­den­ten­ver­bin­dung in Zü­rich, ein ta­mi­li­scher Kul­tur­ver­ein in Uri und ein Alt­dor­fer Fuss­ball­club mit ita­lie­ni­schem Na­men ge­mein­sam? Sie hal­ten bei ih­ren Mit­glie­dern die Er­in­ne­rung an ih­re Her­kunft wach und hel­fen ih­nen gleich­zei­tig, sich am ak­tu­el­len Ort ih­res Le­bens zu­recht zu fin­den.

Wenn Men­schen mi­grie­ren, las­sen sie ih­re Ver­gan­gen­heit nicht ein­fach hin­ter sich, son­dern neh­men Ele­men­te ih­rer frühe­ren Le­bens­wei­se mit und pfle­gen sie am neu­en Ort. Je mehr Men­schen aus ei­nem Land oder Kul­tur­kreis am neu­en Ort le­ben und je aus­ge­präg­ter sie or­ga­ni­siert sind, des­to eher bil­den sie kom­pak­te Mi­lieus. In Ver­ei­nen, kirch­li­chen Or­ga­ni­sa­tio­nen oder an­de­ren For­men von Ge­mein­schaft kön­nen sie sich in ih­rer (Mut­ter-)Spra­che un­ter­hal­ten, ver­trau­te Ri­tua­le pfle­gen und sich aus­tau­schen über das Le­ben in der neu­en Um­ge­bung.

Das Beispiel der Italiener und Italienerinnen in Uri

All dies fin­det sich bei­spiel­haft in der Ge­schich­te der Ita­lie­ne­rin­nen und Ita­lie­ner, die zwi­schen den 1950er und 1980er Jah­ren nach Uri ein­wan­dern. Sie sind lan­ge Zeit mit Ab­stand die gröss­te aus­län­di­sche Be­völ­ke­rungs­grup­pe hier und las­sen sich vor­wie­gend im Tal­bo­den in und um die Zen­tren Alt­dorf und Erst­feld nie­der. Ar­bei­ten tun sie auf Bau­stel­len, in den we­ni­gen Fa­bri­ken des Kan­tons und ver­ein­zelt in klei­nen Be­trie­ben. Weil sie – wie übe­r­all in der Schweiz – in der Hoch­kon­junk­tur nach dem Zwei­ten Welt­krieg ge­frag­te Ar­beits­kräf­te sind, schi­cken man­che Ur­ner Fir­men so­gar Re­kru­tie­rer nach Ita­li­en. Die­se nut­zen die so­zia­len Netz­wer­ke der be­reits in die Schweiz Mi­grier­ten, und so ken­nen sich vie­le Zu­ge­zo­ge­ne von frü­her.

Ohne Italiener keine Urner Baufirmen: Bilder aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert

Strassenbauarbeiten der Firma Gasperini in Altdorf 1960. © Richard Aschwanden, Staatsarchiv Uri

Italienischer Saisonier in einem Bagger der Firma Bau AG Erstfeld/Andermatt um 1960. © Monica und Nicola Petta

Italienische Gastarbeiter auf einer Urner Baustelle Ende der 1970er Jahre. © Monica und Nicola Petta

Nicht ganz allein sein

Ni­co­la Pet­ta bei­spiels­wei­se, der in den 1970er Jah­ren von ei­nem lo­ka­len Bau­un­ter­neh­men an­ge­stellt wird und als 17-Jäh­ri­ger sei­nem Va­ter nach Erst­feld folgt, er­in­nert sich: «Aus mei­nem Dorf, ei­nem klei­nen Dorf in den Ab­bruz­zen mit et­wa 800 Ein­woh­nern, wa­ren wir 40 Per­so­nen hier, als ich hier­her kam. [...] Wenn du al­lei­ne kommst, dann ist es et­was ganz an­de­res. Es ist im­mer bes­ser, wenn je­mand schon da ist.» Er und sei­ne Frau Mo­ni­ca er­zäh­len im In­ter­view von den vie­len ita­lie­ni­schen Ver­ei­nen, die im Ver­lauf der fol­gen­den Jahr­zehn­te in Uri ak­tiv sind: «Bel­lu­ne­si nel mon­do, Si­zi­lia­ner­ver­ein, Ex-Com­bat­ten­ti, Val sec­chi, Po­len­ta e so­si­che ... Teil­wei­se wa­ren die Ver­ei­ne auf ei­ne ita­lie­ni­sche Re­gi­on spe­zia­li­siert, im Cen­tro ita­lia­no und beim FC Az­zur­ri Alt­dorf wa­ren al­le Re­gio­nen ver­tre­ten. Auch Schwei­zer wa­ren da­bei.» 
Das ita­lie­ni­sche Mi­lieu sorgt da­für, dass die Kin­der der Ein­ge­wan­der­ten in der Spra­che und Kul­tur ih­rer El­tern un­ter­rich­tet wer­den – üb­ri­gens mit Un­ter­stüt­zung des ita­lie­ni­schen Staats. Die Ver­eins­an­läs­se sind Platt­for­men für die Pfle­ge von Kon­tak­ten, und meh­re­re Ver­ei­ne or­ga­ni­sie­ren je­des Jahr für ih­re Mit­glie­der ei­ne Rei­se nach Ita­li­en.

Auf die Frage, was die italienischen Vereine in Uri denn in erster Linie so taten, antwortet Nicola Petta: "Feste feiern". Solches Zusammensein – hier am Urner See – war für den sozialen Kitt innerhalb des Milieus unerlässlich. © Giovanni Aprile

Mit organisierten Reisen nach Italien pflegte der FC Azzurri Altdorf den Bezug zum gemeinsamen Herkunftsland bei seinen Mitgliedern. © Giovanni Aprile

Der FC Azzurri Altdorf war nur einer von vielen italienischen Organisationen in Uri. Laut Monica und Nicola Petta waren viele ihrer Landsleute bei mehreren Vereinen gleichzeitig involviert. Hier eine Sammlung von Mitgliederkarten. © Monica und Nicola Petta

Unterstützung im Alltag und bei der Integration

Die re­gel­mäs­si­gen Kon­tak­te zu Lands­leu­ten sind wich­ti­ge emo­tio­na­le An­ker für die ita­lie­ni­sche Be­völ­ke­rung in Uri. Ni­co­la und Mo­ni­ca Pet­ta be­schrei­ben bei­de das Ge­fühl, «ei­ner Fa­mi­lie an­zu­ge­hö­ren». Be­son­ders in schwie­ri­gen Le­bens­si­tua­tio­nen kann das exis­ten­zi­ell wer­den. Die Ver­ei­ne ha­ben des­halb ein Au­ge auf ver­letz­li­che Per­so­nen: «An Weih­nach­ten sind wir zu zweit bei al­len Pen­sio­nier­ten, die im Ver­ein Mit­glied wa­ren, vor­bei­ge­gan­gen und ha­ben Pa­net­to­ne und ei­ne Fla­sche Wein vor­bei­ge­bracht. Ins Spi­tal ha­ben wir Blu­men ge­bracht und für Be­er­di­gun­gen ha­ben wir ei­nen Blu­men­strauss oder ei­nen Kranz ge­macht», er­zählt das Ehe­paar Pet­ta.
Das Mi­lieu un­ter­stützt auch, wenn es dar­um geht, sich im neu­en Le­ben zu­recht zu fin­den. Das zeigt sich zum Bei­spiel bei der Ge­schich­te von Mo­ni­ca Pet­ta, die sich um ei­ne jun­ge Ar­beits­kol­le­gin aus Ita­li­en küm­mert.

Konkrete Unterstützung bei der Integration

00:00 / 00:00

«Sie kam vor sechs Jah­ren hier­her mit zwei klei­nen Kin­dern. In Ita­li­en gin­gen sie in die vier­te und in die ers­te Klas­se. Hier be­kam sie ei­ne Stel­le, un­ten war sie oh­ne Job, we­der sie noch ihr Mann. Sie hat dann die aus­ge­schrie­be­ne Stel­le [bei der Dät­wy­ler AG] ge­se­hen, hat sich be­wor­ben und hat sie ge­kriegt. Na­tür­lich woll­te sie die Kin­der mit­neh­men, aber ihr Mann woll­te nicht kom­men. Er sag­te dau­ernd, er kom­me, ist aber bis heu­te nicht da. Er ar­bei­tet heu­te un­ten. Sie hat die Kin­der dann mit­ge­nom­men, und dann ha­ben wir mit Di­mi­t­ri ge­schaut we­gen der Schu­le und all den an­de­ren An­ge­le­gen­hei­ten. Ei­ner ist nun an der ETH.»
«Ei­nes die­ser Kin­der?»
«Ja. Sie konn­ten da­mals noch kein Wort Deutsch. Und die an­de­re geht ans Gym­na­si­um und macht bald den Ab­schluss.» 
«Sie sind bei­de gut in­te­griert. Sehr gut so­gar.»
[...]
«In die­sem Fall, sagst du, habt ihr ge­hol­fen. Was gibt es da ge­nau zu hel­fen?»
«Nun, sie kam ans Fest – weißt du, wir ha­ben je­des Jahr ein Som­mer­fest ...»
«Wer macht ein Som­mer­fest?»
«Die Dät­wy­ler AG. An die­sen An­lass kam sie, konn­te na­tür­lich noch kein Wort Deutsch, Eng­lisch hin­ge­gen schon, klar, per­fekt, denn oh­ne Eng­lisch kommst du nir­gends hin. Aber eben, kein Deutsch. Und dann frag­te sie, ob in die­ser Fir­ma nicht auch Ita­lie­ner ar­bei­te­ten. Wir wa­ren dann vier/fünf aus Ita­li­en und ha­ben mit ihr an­ge­fan­gen, uns zu un­ter­hal­ten, ka­men ins Ge­spräch, dann hat Ni­co­la sie zum Es­sen ein­ge­la­den. So hat das an­ge­fan­gen.»
«Sie kommt von ei­nem Ort, der nur 30 Ki­lo­me­ter von mei­nem Hei­mat­dorf ent­fernt ist.»
«Al­so, al­so na­he.»
«Und dann ha­ben wir mit­ein­an­der ge­re­det und ge­schaut we­gen ei­ner Woh­nung, die passt, wenn sie die Kin­der mit­nimmt. Und dann na­tür­lich ad­mi­nis­tra­ti­ve An­ge­le­gen­hei­ten.»


Die ita­lie­ni­sche ka­tho­li­sche Kir­che spielt in die­sem Mi­lieu ei­ne wich­ti­ge Rol­le. Ei­ner­seits or­ga­ni­siert sie in Kir­chen in Erst­feld und Alt­dorf – zeit­wei­se auch in Flüelen – re­gel­mäs­sig Mes­sen. An­de­rer­seits über­neh­men die Pries­ter wich­ti­ge Rol­len in der Be­treu­ung der teil­wei­se jun­gen Im­mi­gran­ten und un­ter­stüt­zen sie in ad­mi­nis­tra­ti­ven An­ge­le­gen­hei­ten.

00:00 / 00:00

«Und der ita­lie­ni­sche Pfar­rer... Ich kann mich noch er­in­nern, als mei­ne El­tern die Kan­ti­ne führ­ten. Da gab es vie­le Gast­ar­bei­ter. Er kam je­weils am Sams­tag­abend oder am Sonn­tag mit ei­ner al­ten Film­ka­me­ra und spiel­te den Ar­bei­tern ei­nen Film vor.»
«Ir­gend­ei­nen Film?»
«Ir­gend­ei­nen ita­lie­ni­schen Film, ja.»
«Er wohn­te dann auch hier im Kan­ton?»
«Ja, er wohn­te in Alt­dorf, und wenn du et­was brauch­test, ein Pa­pier zum Bei­spiel...»
«Er hat­te ein Bü­ro für Pass-Sup­port – da konn­te man hin­ge­hen. Den Sai­son­niers hat er im­mer viel ge­hol­fen.»
«Der war sehr gut.»

Migrantische Milieus im Wandel

Wer mit äl­te­ren Ita­lie­ne­rIn­nen in Uri und ih­ren Nach­kom­men spricht, merkt deut­lich, dass ein sol­ches Mi­lieu we­der ho­mo­gen noch un­ver­än­der­lich ist. 
Da ist zum Bei­spiel die Ge­schich­te von Bru­no Pran­di, Sohn ei­nes ita­lie­ni­schen Ein­wan­de­rers und ei­ner Schwei­ze­rin. Dass er der Sohn ei­nes Zu­zü­gers ist und El­tern mit un­ter­schied­li­cher Her­kunft hat, spie­gelt sich in sei­ner Er­zäh­lung. 
«Ich fin­de, in un­se­rer Fa­mi­lie war nie die Hal­tung vor­herr­schend 'Wir wol­len uns ab­gren­zen und un­be­dingt su­per­ita­lie­nisch blei­ben.' Aber gleich­zei­tig ha­ben wir die ita­lie­ni­sche Com­mu­ni­ty, ken­nen die­se Leu­te, sind mit ih­nen un­ter­wegs, und das Cen­tro ita­lia­no war ein wich­ti­ger Ort. Und eben­falls gleich­zei­tig 'Wir woh­nen hier, ha­ben die­se Leu­te [Schwei­ze­rIn­nen] um uns und le­ben mit ih­nen zu­sam­men.' Mei­ne Mut­ter ist ja in Alt­dorf auf­ge­wach­sen und kann­te die Ein­hei­mi­schen. Wir hat­ten al­so das Bes­te aus bei­den Wel­ten.»
Be­reits wäh­rend der Hoch­pha­se des ita­lie­ni­schen Mi­lieus in Uri hat­te die­se Com­mu­ni­ty al­so für ei­ne bi­na­tio­na­le Fa­mi­lie ei­nen ganz an­de­ren Stel­len­wert, als wenn bei­de El­tern aus Ita­li­en ka­men. Und je län­ger die Fa­mi­li­en in der Schweiz wohn­ten, des­to schwä­cher wur­de die Sog­kraft der frü­her so ak­ti­ven Ver­ei­ne, denn mit je­der Ge­ne­ra­ti­on fä­chert sich das so­zia­le Netz qua­si wei­ter auf. Bru­no Pran­di ver­tritt denn auch de­zi­diert die Mei­nung, man müs­se in Be­zug auf In­te­gra­ti­on vor al­lem ei­nes ha­ben: Ge­duld. «Gebt den Leu­ten 20-30 Jah­re, um sich an­zu­ge­wöh­nen. Und gebt ih­nen vor al­lem Zeit, dass ih­re Kin­der sich hier an­ge­wöh­nen kön­nen. Dann kommt das gut.»

Mo­ni­ca Pet­ta be­schreibt, wie die ita­lie­ni­schen Ver­ei­ne zu­sam­men mit ih­ren Mit­glie­dern äl­ter ge­wor­den sind und sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren mehr­heit­lich auf­ge­löst ha­ben: 
«Auf die ei­ne Sei­te ist es scha­de. Aber es will sich nie­mand mehr en­ga­gie­ren. [...] Wir aus der zwei­ten und drit­ten Ge­ne­ra­ti­on ha­ben ver­sucht, den Nie­der­gang auf­zu­hal­ten. Aber der ei­ne hat ir­gend­wel­che Pro­ble­me, der an­de­re hat kei­ne Zeit. Wenn du dann sag­test 'Wir hö­ren auf', dann hiess es 'N­ein, ihr dürft nicht!' 'Na dann helft doch mit, et­was zu un­ter­neh­men.' 'N­ein, wir ha­ben lei­der kei­ne Zeit.' Und ir­gend­wann sagst du, wenn nie­mand mit­trägt 'War­um müs­sen im­mer wir al­les stem­men?' ... Aber so­viel ich hö­re, geht es den Schwei­zer Ver­ei­nen auch nicht bes­ser.» 
Tat­säch­lich muss je­des Mi­lieu als ei­ne spe­zi­fi­sche so­zia­le Kon­stel­la­ti­on in ei­ner spe­zi­fi­schen Zeit ver­stan­den wer­den. 

Fazit

Die Mi­lieus von Zu­ge­wan­der­ten ha­ben al­so ei­ne dop­pel­te Funk­ti­on: Ei­ner­seits die­nen sie dem Be­dürf­nis der mi­gran­ti­schen Be­völ­ke­rung, un­ter sich zu sein und sich ein Stück sprach­li­che, kul­tu­rel­le und so­zia­le Ge­wohn­heit zu er­hal­ten. Das hat et­was Ex­klu­si­ves. Vie­le mi­gran­ti­sche Or­ga­ni­sa­tio­nen blei­ben des­halb lie­ber im Hin­ter­grund und ma­chen ih­re Ak­ti­vi­tä­ten nicht ger­ne öf­fent­lich. We­gen die­ser Zu­rück­hal­tung und Ab­gren­zung wer­den sie von aus­sen oft arg­wöh­nisch be­äugt. Man be­fürch­tet Par­al­lel­ge­sell­schaf­ten. An­de­rer­seits ma­chen die Aus­sa­gen der In­ter­view­ten klar, dass die Netz­wer­ke sol­cher Mi­lieus für die Mi­gra­ti­ons­be­völ­ke­rung un­er­setz­ba­re Hil­fe­stel­lun­gen er­fül­len, die ih­nen das Le­ben am neu­en Ort ent­schei­dend er­leich­tern. Nicht zu­letzt ma­chen die Er­zäh­lun­gen über die ita­lie­ni­sche Com­mu­ni­ty im Uri der ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­te deut­lich, wie selbst ei­ne auf sich selbst be­zo­ge­ne Ge­mein­schaft die Kul­tur und Ge­sell­schaft ei­nes Or­tes prä­gen kann.

Weiterführende Literatur

Associazione Sportiva Azzurri: FC Azzurri Altdorf, 1968-2018. 50 Jahre/anni (2018)

E-Mail
Urner Firmen

LoremLaborum in amet duis enim duis occaecat ullamco ipsum do nulla nostrud. Excepteur nisi mollit laboris esse. Id commodo cillum sunt aliquip dolore magna eiusmod ea. Nulla sint ad ipsum cupidatat sunt laborum ea eu non enim cupidatat. Mollit dolor laboris velit sunt non cupidatat anim voluptate aute et. Lorem Lorem anim reprehenderit eu dolore magna velit culpa.

Datenschutz: Lesen,