Uri ist voller Migrationsgeschichten – ein vorläufiges Fazit

Rahel Wunderli

Mi­gra­ti­on ist bei­des: ein Aus­lö­ser für und ei­ne Fol­ge von Wan­del. Mensch­li­che Wan­de­rungs­be­we­gun­gen wer­den al­so durch Ver­än­de­run­gen aus­ge­löst und stos­sen sie gleich­zei­tig an. Die­ses Grund­prin­zip von Mi­gra­ti­on gilt es eben­so be­wusst zu hal­ten wie die un­ter­schied­li­chen Be­din­gun­gen, un­ter de­nen sie statt­fin­det und die un­ter­schied­li­chen For­men, die sie an­nimmt. Le­sen Sie hier, wel­che Er­kennt­nis­se sich aus un­se­ren Re­cher­chen zur Ur­ner Mi­gra­ti­ons­ge­schich­te noch er­ge­ben ha­ben.

Für die Sinne besonders gut wahrnehmbar

In den Ge­sprä­chen, die wir ge­führt ha­ben, hat sich ge­zeigt: Mi­gra­ti­on ist ein be­son­ders deut­li­ches Zei­chen für Wan­del, weil es über al­le Sin­ne wahr­nehm­bar ist. Die Zu­ge­zo­ge­nen se­hen an­ders aus und man hört sie ei­ne frem­de Spra­che spre­chen. In ei­nem Dorf, wo «Ürn­er­tiitsch» vor­herrscht, fällt so­gar auf, wenn ein Kind in der Schu­le Lu­zer­ner Dia­lekt spricht (Se­rai­na Wi­cky er­zählt an un­se­rer Ver­an­stal­tung in Gösche­nen, dass sie als Zu­ge­zo­ge­ne aus Lu­zern auf dem Hal­di we­gen ih­rem Dia­lekt ge­hän­selt wur­de). An Or­ten, die ver­las­sen wer­den, blei­ben Fens­ter­lä­den ge­schlos­sen und wer­den Schul­klas­sen klei­ner. Or­te mit Zu­wan­de­rung er­le­ben be­son­ders in­ten­si­ve Bau­tä­tig­kei­ten und ei­ne zu­neh­men­de Dich­te im Ver­kehr. All das ist sicht­bar, springt buch­stäb­lich ins Au­ge.
Was für die Orts­an­säs­si­gen be­reits ei­ne deut­li­che Ver­än­de­rung ist, ist es noch viel mehr für die, die zu­zie­hen. Sie müs­sen sich an ei­ne Um­ge­bung vol­ler neu­er Ge­sich­ter, Klän­ge und Ge­rü­che ge­wöh­nen, kön­nen viel­leicht nicht ein­mal die Schrift le­sen und fin­den sich un­ter Um­stän­den in ei­ner kom­plett neu­en Land­schaft wie­der.
Kann es sein, dass Mi­gra­ti­on auch we­gen die­ser star­ken Sin­nes­ein­drü­cke ei­ne aus­ge­prägt emo­tio­na­le Wir­kung auf uns Men­schen hat und po­li­tisch so heiss dis­ku­tiert wird?

Ein unstetes Phänomen, das sich immer wieder der Kontrolle entzieht

Die (Ur­ner) Ge­schich­te zeigt: Mi­gra­ti­on ver­läuft manch­mal lang­sam und gleich­mäs­sig – wie zum Bei­spiel die Ab­wan­de­rung aus ab­ge­le­ge­nen Berg­dör­fern – oft aber gleicht sie ei­ner ruck­ar­ti­gen Be­we­gung, die mit ih­rem Tem­po und ih­rem Aus­mass die be­stehen­den In­fra­struk­tu­ren her­aus­for­dert – zum Bei­spiel im Um­feld dy­na­mi­scher wirt­schaft­li­cher Ent­wick­lung, grös­se­rer Bau­pro­jek­te oder be­son­ders dra­ma­tisch als Fol­ge von ge­walt­tä­ti­gen Kon­flik­ten und Krieg. 
Auch die Zie­le von Mi­gra­ti­ons­strö­men sind nicht re­gel­mäs­sig über die Land­kar­te ver­teilt. Es gibt Hot­spots – wie bei­spiels­wei­se die Gross­bau­stel­le Gott­hard­bahn­tun­nel in Gösche­nen En­de des 19. Jahr­hun­derts – und Or­te, die kaum tan­giert wer­den da­von, selbst wenn sie nicht weit ent­fernt lie­gen – wie bei­spiels­wei­se Si­le­nen zu je­ner Zeit.
Die­se Sprung­haf­tig­keit und die vie­len sich über­la­gern­den Ur­sa­chen ma­chen Mi­gra­ti­on zu ei­nem Phä­no­men, das schwie­rig zu kon­trol­lie­ren ist. Po­li­ti­sche Ver­su­che, die Wan­de­rungs­be­we­gun­gen zu steu­ern oder auf­zu­hal­ten, gab und gibt es zahl­rei­che, und tat­säch­lich kön­nen sie die Qua­li­tät der Mi­gra­ti­ons­er­fah­run­gen deut­lich be­ein­flus­sen. Das zei­gen bei­spiels­wei­se die Er­zäh­lun­gen der ita­lie­ni­schen Sai­son­niers in Uri. Dass sich die jun­gen Män­ner vor der Ein­rei­se in die Schweiz je­weils ei­nem me­di­zi­ni­schen Check un­ter­zie­hen muss­ten, er­in­nert Ni­co­la Pet­ta bis ins ho­he Al­ter. 

Die Wir­kung an­de­rer Kon­troll­ver­su­che ist schwie­rig zu mes­sen: Die zahl­rei­chen und viel­fäl­ti­gen po­li­ti­schen Mass­nah­men zur Min­de­rung der «Land­flucht» seit den 1920er Jah­ren ha­ben die Ab­wan­de­rung aus ab­ge­le­ge­nen Ge­mein­den nicht stop­pen kön­nen. Aber was wä­re ge­sche­hen oh­ne die­se Mass­nah­men? Wä­re die Le­bens­qua­li­tät in die­sen Ge­bie­ten heu­te trotz­dem so hoch, wie sie ist, oder gä­be es die Dör­fer viel­leicht gar nicht mehr?

Es gibt keinen Endpunkt

Die­se Fra­ge führt zu ei­nem letz­ten Punkt: Dank der prin­zi­pi­el­len Un­be­re­chen­bar­keit von Mi­gra­ti­on ist die Ge­schich­te ei­nes Or­tes nie zu En­de ge­schrie­ben. Wird zum Bei­spiel der Bau ei­nes Tou­ris­mus­re­sorts im Ge­biet Is­le­ten die Ent­völ­ke­rung des Isenthals stop­pen und der Ge­mein­de Zu­wan­de­rung be­sche­ren? Die Mög­lich­keit be­steht eben­so, wie der­einst ein Be­völ­ke­rungs­rück­gang im heu­te wach­sen­den Alt­dorf. Auf sol­che Wel­len­be­we­gun­gen, die er­kenn­bar sind, wenn man ei­nen Ort über ei­nen lan­gen Zeit­raum be­ob­ach­tet, hat auch der His­to­ri­ker Urs Kä­lin bei der Ver­an­stal­tung «Schrump­fen, wach­sen, Grös­se hal­ten – Ur­ner Ge­mein­den im Sog von Ab­wan­de­rung und Zu­zug» hin­ge­wie­sen: 

«Wenn ich die Zah­len rich­tig im Kopf ha­be, hat­te die Ge­mein­de Isen­thal vor et­wa 300 Jah­ren 150 Ein­woh­ner, und 50 Jah­re spä­ter wa­ren es dop­pelt so vie­le. Da­nach hat sich die Be­völ­ke­rung noch ein­mal ver­dop­pelt in­ner­halb von kur­zer Zeit. In der­sel­ben Zeit hat Alt­dorf ei­nen Drit­tel sei­ner Be­völ­ke­rung ein­ge­büsst. Mit dem will ich sa­gen: Es gibt in der Ge­schich­te nichts Sta­ti­sches, da ist im­mer Be­we­gung drin. [...] Bei der Be­ur­tei­lung sol­cher Ver­än­de­run­gen kommt es dar­auf an, wor­auf ich mei­ne Auf­merk­sam­keit rich­te. [...] Wich­tig scheint mir die Qua­li­tät des Zu­sam­men­le­bens an ei­nem Ort.»

Vieles ist noch untersuchungswürdig

Die vie­len Ge­sich­ter von Mi­gra­ti­on brin­gen mit sich, dass ih­re Er­for­schung un­ab­schliess­bar ist. Da ist zum Bei­spiel die Fra­ge, wie sich Uri zu ver­schie­de­nen Zei­ten po­li­tisch zu Mi­gra­ti­on ver­hal­ten hat. Wann hat man wel­che Wan­de­rungs­be­we­gun­gen ge­för­dert und wel­che zu un­ter­bin­den ver­sucht? Mit wel­chen Mit­teln? Mit wel­chen Aus­wir­kun­gen? Oder die Fra­ge nach den un­ter­schied­li­chen Grup­pen von Mi­gran­tin­nen und Mi­gran­ten: Wie prä­gen und präg­ten die un­ter­schied­li­chen Her­kunfts­län­der und die un­ter­schied­li­chen so­zia­len Hin­ter­grün­de der Zu­ge­zo­ge­nen den Kan­ton? Wel­che Spu­ren ha­ben sie hin­ter­las­sen? Dies sind nur zwei Bei­spie­le, die ei­ne Er­for­schung loh­nen wür­den. Vie­le wei­te­re kom­men da­zu. 
Wir kön­nen die­se Fra­gen hier nicht be­ant­wor­ten. Aber wir hof­fen, dass wir Sie für die fas­zi­nie­ren­de Ur­ner Mi­gra­ti­ons­ge­schich­te sen­si­bi­li­sie­ren konn­ten.

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